Inventur. Der Personalumbau in den ostdeutschen Wissenschaften nach 1989

Inventur. Der Personalumbau in den ostdeutschen Wissenschaften nach 1989

Organisatoren
Franziska Bomski, Einstein Forum, Potsdam
PLZ
14467
Ort
Potsdam
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
26.01.2023 - 27.01.2023
Von
Jens Krumeich, Germanistisches Seminar, Universität Heidelberg

Die bis heute hitzig geführte Debatte über die „Unterrepräsentanz Ostdeutscher an den Hochschulen und Universitäten“ war Anlass für eine Anfang des Jahres von FRANZISKA BOMSKI (Potsdam) organisierte, interdisziplinär besetzte Tagung des Einstein Forums. Wissenschaftler:innen verschiedener Generationen kamen mit Zeitzeug:innen zusammen, um über den Transformationsprozess der Hochschulen und Forschungseinrichtungen der ehemaligen DDR infolge der Wiedervereinigung und die dabei auftretenden Spannungen zwischen Ost und West zu diskutieren. Wie Bomski in ihrer Einführung betonte, wurde die Neuordnung des ostdeutschen Wissenschaftsbetriebs schnell vollzogen und galt bereits Mitte der 1990er-Jahre auf institutioneller und personeller Ebene als abgeschlossen. In Bezug auf die Förderung und den Neuaufbau einer ostdeutschen Wissenschaftskultur fallen die Bilanzen des Hochschulumbaus heute jedoch höchst unbefriedigend aus; aus neueren Studien geht deutlich hervor, dass Ostdeutsche vor allem auf den oberen Führungsebenen weiterhin stark unterrepräsentiert sind.

Eröffnet wurde die Tagung durch die umfassenden Ausführungen von PEER PASTERNACK (Halle-Wittenberg), der Differenzierungen bei der Bewertung des Personalumbaus an ostdeutschen Hochschulen und Forschungsinstitutionen in der Nachwendezeit anmahnte. Der Forschungsdirektor des Instituts für Hochschulforschung Halle-Wittenberg machte zwei Hauptdimensionen des Personalumbaus aus: Zum einen sei die Personalstruktur Westdeutschlands auf Ostdeutschland übertragen worden, mit der Folge, dass bestimmte Personalkategorien ganz wegfielen und ein Wettbewerbsvorteil für westdeutsche Wissenschaftler:innen gegenüber ihren akademisch in der DDR sozialisierten Kolleg:innen entstanden sei. Pasternack pointierte, dass die „durchschnittliche westdeutsche Bewerberin“ die „durchschnittliche ostdeutsche Bewerberin ausstechen“ konnte, weil nur „sie die Spielregeln des akademischen Betriebs kannte“. Zum anderen sei es zu einem massiven Personalabbau gekommen. An den Hochschulen und Akademien wurden ca. 60 Prozent des Personals entlassen, wobei Pasternack auf die starken Unterschiede zwischen den jeweiligen Ländern und Fächern hinwies. In den Geistes- und Sozialwissenschaften seien die personellen Kürzungen gravierender gewesen als etwa in den Ingenieurwissenschaften. Noch stärker waren jedoch die Industrie- sowie die den Ministerien unterstellte Ressortforschung betroffen. Hier verloren 85 bzw. 95 Prozent der Mitarbeiter:innen ihre Stellen. Als besonders demütigend wurden die mehrfachen Überprüfungen der Betroffenen wahrgenommen, etwa die institutionelle Evaluation der Akademien wie auch die individuelle fachliche Evaluation (z.B. in Neuberufungsverfahren) durch westdeutsche Wissenschaftler:innen. Viele der anschließenden Vorträge bestätigten Pasternacks Ausführungen.

Auf diesen wissenschaftshistorischen Überblick folgte eine biografisch gefärbte Perspektive: Der Historiker BERND FLORATH (Berlin) richtete am Beispiel der Geschichtswissenschaften an der Berliner Universität den Blick zurück auf die Gründe für die ‚friedliche Revolution‘, die sich auch gegen die Repressionen im Wissenschaftssystem der DDR richtete. Florath, der Mitte der 1970er-Jahre zeitweise aus politischen Gründen zwangsexmatrikuliert wurde, sprach als Historiker, Zeitzeuge und Akteur und erläuterte die Bedeutung des von Armin Mittler und Stefan Wolle 1990 gegründeten Unabhängigen Historikerverbands, der als Gegenpol zur offiziellen DDR-Geschichtswissenschaft fungierte. An den Geschichtsprofessoren Kurt Pätzold (1930–2016) und Günther Rosenfeld (1926–2015) machte Florath deutlich, wie unterschiedlich Akademiker in Zeiten der Diktatur handeln konnten: Pätzold sei als ideologischer „Hardliner“ für harte Disziplinarmaßnahmen wie Zwangsexmatrikulationen und Verhaftungen verantwortlich gewesen, während sein Kollege Rosenfeld vieles zugelassen und Überschreitungen des restriktiven Rahmens des DDR-Wissenschaftssystems durch Studierende oder Mitarbeiter:innen nicht sofort sanktioniert habe.

AXEL-WOLFGANG KAHL (Potsdam) ging der Frage nach, warum die ostdeutschen Gesellschafts- und Sozialwissenschaften weitgehend negativ evaluiert und letztlich mehrheitlich „abgewickelt“ wurden. Als Fallbeispiele dienten der Jurist Ludwig Penig und der Ökonom Werner Cramer, die in der AG Wirtschaftsreform noch zu DDR-Zeiten am „Erneuerungsprozess“ mitwirken wollten. Für Penig und Cramer bedeutete „Erneuerung“ die Reformierung des Sozialismus, nicht aber die Überwindung des bestehenden Systems. Auch wenn sie mitunter als Berater in der Politik gefragt waren, legte Kahl dar, dass sowohl die Reform als auch die Reformer aus Sicht der entscheidenden wissenschaftspolitischen Stellen verzichtbar waren, sobald die neuen Partneruniversitäten im Westen Orientierung lieferten. Da die akademischen Eliten erst unter dem Eindruck des Machtzerfalls von der SED abgerückt seien, galten die entsprechenden Personen als „SED-Professoren“ oder „Wendehälse“. Anders als etwa im Bereich der Medizin oder Ingenieurwissenschaften wurde den Angehörigen der gesellschaftswissenschaftlichen Fächer dabei der nicht unbegründete Vorwurf gemacht, das System ideell unterstützt zu haben.

KRIJN THIJS (Amsterdam) analysierte in seinem materialgesättigten Vortrag die ost-westdeutsch besetzte Struktur- und Berufungskommission (SBK) Geschichte, die unter Leitung des einflussreichen Münchner Sozialhistorikers Gerhard A. Ritter (1929–2015) ab 1991 nach der vom Berliner Senat beschlossenen Abwicklung die historischen Fachbereiche an der Humboldt-Universität zu Berlin neu konzipieren sollte. Thijs stellte dar, welche Konflikte mit der angestrebten „Erneuerung der ostdeutschen Geschichtswissenschaft“ einhergingen und wie intrikat der Dialog zwischen etablierten SED-Historikern, ihren Kritiker:innen aus der Bürgerrechtsbewegung und den Kolleg:innen aus Westdeutschland ausfiel. Zum Problem wurden neben der Fremdheit und dem stark asymmetrischen Verhältnis zwischen Ost- und Westhistoriker:innen auch Streitigkeiten zwischen den neu eingesetzten Historikern aus dem Westen.

Den Vorträgen über strukturelle Fragen folgte eine erste Podiumsdiskussion, die die schon bei Bernd Floraths Ausführungen aufscheinende biografische Perspektive auf die Jahre 1989/90 ins Zentrum rückte. Moderiert vom Literaturwissenschaftler und Referanten für den Bereich Evaluation bei der Kulturstiftung des Bundes UWE MAXIMILIAN KORN (Halle an der Saale) sprachen drei Wissenschaftler:innen unterschiedlicher Generationen über ihre persönlichen Erfahrungen in der Transformationszeit. Die Historikerin MONIKA JULIANE GIBAS (Leipzig) war seit 1989 an der Karl-Marx-Universität in Leipzig als Oberassistentin an Werner Bertholds (1923–2017) Lehrstuhl tätig und konnte sich hier habilitieren, bevor ihre Abteilung 1992 abgewickelt, ihr selbst gekündigt wurde und sie ihre Habilitationsschrift vor einer paritätisch ost- und westdeutsch besetzten Kommission erneut verteidigen musste. Ein DFG-Projekt zur deutsch-deutschen Propagandageschichte ebnete Gibas im Anschluss den Weg zu einer erfolgreiche Drittmittelkarriere. Auch DIETER SEGERT (Wien) konnte seine akademische Karriere letztlich fortsetzen: 1989 war er mit 37 Jahren als einer der jüngsten Professoren der DDR im Bereich der marxistisch-leninistischen Philosophie in Berlin tätig. Mit Schwerpunkt auf dem „wissenschaftlichen Kommunismus“ habe er, so Segert, versucht, das Fach aus sich selbst heraus zu reformieren und als Politikwissenschaft neu auszurichten. Während von knapp 50 Mitarbeitern ca. 30 entlassen wurden, ging Segert selbst positiv aus der Evaluation hervor.

Für die jüngere Generation der in der DDR aufgewachsenen, aber im vereinigten Deutschland akademisch sozialisierten Wissenschaftler:innen sprach die in Rostock geborene ASTRID LORENZ (Leipzig) (geb. 1975). Die Politikwissenschaftlerin, die seit vergangenem Jahr zum Vorstand der Forschungsstelle für Transformationsgeschichte an der Universität Leipzig und zum Leitungsteam des „Elitenmonitors“ zählt, ordnete die Entscheidungen der Jahre nach der Wiedervereinigung politisch ein und betonte, dass man vermeiden sollte, in die immer gleichen Narrative, wie das der „Kolonialisierung“, zu verfallen. Hilfreich sei der Vergleich mit anderen ehemals sozialistischen Länder in Ost- und Mitteleuropa, deren universitäre Transformationsprozesse ohne finanzielle Rückendeckung aus dem Westen auskommen mussten. Gleichwohl sei das DDR-Hochschulsystem in seiner Ausbaustufe ökonomisch nicht haltbar gewesen; trotz Länderfinanzausgleich mussten auch noch Ende der 1990er-Jahre viele Stellen eingespart werden. Politisch verantwortlich dafür seien die weitgehend ostdeutsch besetzten Landesparlamente und ihre Bildungspolitik gewesen.

In seinem Abendvortrag „Die Wissenschaften im Prozess der deutschen Vereinigung. Eine ‚Übernahme‘ mit unerwarteten Folgen“ historisierte und dekonstruierte MITCHELL G. ASH (Wien) aus wissenschaftshistorischer Perspektive drei konkurrierende „Basisnarrative“ zum Transformationsprozess, die sich mit „bemerkenswerter Zähigkeit“ gehalten hätten: Erstens das Narrativ der „Kolonisierung“ des Ostens durch den Westen, zweitens „die Behauptung einer notwendigen ‚Erneuerung‘ eines politisch korrumpierten und epistemisch mittelmäßigen Hochschul- und Wissenschaftssystems“ sowie drittens das Narrativ einer „Erneuerung mit Bedauern“, das die persönlichen Leiderfahrungen der Betroffenen anerkannt, die Entscheidungen aber prinzipiell für richtig gehalten habe. Ash skizzierte die Dynamik des Transformationsprozesses in Politik wie Wissenschaftspolitik. In den 1990er-Jahren sei es zu einer Neustrukturierung der Hochschulen nach westdeutschem Muster unter starkem finanziellen Druck gekommen. In struktureller Hinsicht sei der häufig verwendete Begriff der „Verwestdeutschung“ daher nachvollziehbar, jedoch nicht komplett auf das Personal zu übertragen. Denn es seien zwar, so Ash, in den „abgewickelten“ Fächern vor allem westdeutsche Wissenschaftler:innen eingesetzt worden, in den „nicht-abgewickelten“ sei das Bild aber ein anderes: So seien in den fortbestehenden geisteswissenschaftlichen Instituten etwa fünfzig Prozent des Personals aus dem Westen gekommen, in den Natur- und Medizinwissenschaften, die im Unterschied zu den Geisteswissenschaften erweitert wurden, nur ein Viertel. Die häufig artikulierte „Verdrängungsthese“ treffe insgesamt am ehesten auf den „Mittelbau“ zu. Denn hier habe die Entscheidung, den Personalschlüssel der westdeutschen Hochschulen zu übernehmen, gravierende Konsequenzen für die Beschäftigten gehabt. Insgesamt habe es eine radikale Transformation des Hochschul- und Wissenschaftssystems in Ostdeutschland gegeben, die aber nicht als „eins-zu-eins Ausdehnung des westdeutschen Systems“ verstanden werden könne, sondern ein „Gemisch aus ‚linearen‘ Neugründungen“, „Übernahmen“ und „Innovationen“ darstelle. Beim „Kolonialisierungsnarrativ“ handle es sich um „eine Kompensierungserzählung der früheren Funktionselite“ der DDR, die damit ihren Machtverlust als Folge einer „Eroberung“ inszenierte. Dabei seien an allen wesentlichen Entscheidungsprozessen Ostdeutsche beteiligt gewesen. Das „Erneuerungsnarrativ“ hingegen sei vornehmlich im Bereich der Politik verwendet worden, und das Narrativ der „Erneuerung mit Bedauern“ sei Mitte der 1990er-Jahre dann zu dem bis heute dominierenden Narrativ aufgestiegen.

Der zweite Tagungstag begann mit zwei Vorträgen aus dem Bereich der germanistischen Literaturwissenschaft. CARSTEN GANSEL (Gießen) eröffnete seinen Beitrag mit einem Ausschnitt aus einer Rede des Schriftstellers Volker Braun auf dem Weltkongress der Internationalen Vereinigung für Germanistik (IVG) 2015 in Shanghai, in der dieser zwei Richtungen der DDR-Literaturwissenschaft skizzierte: diejenige, die „Urteile fällte und Zensuren verteilte“, und diejenige, die mit den Autoren im Dialog gestanden habe und an der Veränderung der Welt teilhaben wollte. Ausgehend von Brauns These zeichnete Gansel, der 1989 in der DDR habilitierte, die seit Ende der 1960er-Jahre aufbrechenden Friktionen der DDR-Germanistik nach. Als positive Fälle stellte Gansel insbesondere diejenigen heraus, die eine „Emanzipation von den Rahmenideologien“ (z.B. Dieter und Silvia Schlenstedt sowie Werner Mittenzwei) gewagt hätten. Am Beispiel des Kolloquiums „DDR-Literatur in der DDR-Literaturgeschichtsschreibung, Bilanz und Aufgaben“, das im Herbst 1989 an der Humboldt-Universität durchgeführt wurde, verwies Gansel auch auf innerakademische Reformideen aus der Germanistik. Ein dort aufgesetztes kulturpolitisches Reformpapier kam jedoch zu spät. Ausblicke auf den Germanistentag 1991 in Augsburg und auf den „Elitenaustausch“ in der ostdeutschen Germanistik als eines der am stärksten evaluierten Fächer beschlossen Gansels Vortrag.

Einen personenzentrierten Zugang wählte die Literaturwissenschaftlerin SANDRA SCHELL (Heidelberg), die sich exemplarisch mit dem Leipziger Literaturwissenschaftler Günter Mieth (1931–2013) beschäftigte. Mieth, ein Schüler Hans Mayers, war seit 1976 Ordinarius für Deutsche Literatur an der Karl-Marx-Universität Leipzig. Bereits vor Herbst 1989 habe sich Mieth um die wissenschaftliche Öffnung seines Lehrstuhls in Richtung Westen bemüht und über Auslandsreisen (u.a. nach Frankreich) und die Kooperation mit der westdeutschen Hölderlingesellschaft ein Netzwerk internationaler Wissenschaftskontakte aufgebaut. In der Folge habe Mieth die „Wende“ zunächst optimistisch als einen Moment des Aufbruchs gesehen, dem allerdings rasch Ernüchterung und Resignation gefolgt seien. Mieth entschied sich im Herbst 1990 zu einer vorzeitigen Emeritierung und kam damit seiner Evaluation zuvor; sein Lehrstuhl wurde „abgewickelt“. Für die noch kaum erforschte Fachgeschichte der ostdeutschen Germanistik vor und nach der „Wende“ stellt Mieth daher ein gutes Fallbeispiel für die Transformationsfriktionen im Zuge des Personalumbaus dar.

Im anschließenden von der Literaturwissenschaftlerin ANDREA ALBRECHT (Heidelberg) moderierten Podiumsgespräch berichteten zwei an Evaluation und Neugründungen beteiligte westdeutsche Ordinarien aus Geschichtswissenschaft, WOLFGANG SCHIEDER (geb. 1935; Köln), und Germanistik, JÖRG SCHÖNERT (geb. 1941; Hamburg), von ihren Erfahrungen im Transformationsprozess. Das Gespräch ging u.a. Fragen nach dem Kontakt zu den Evaluierten nach, rekonstruierte die Evaluationspraxis und erörterte die politischen Rahmenbedingungen. Schönert schilderte u.a., wie in Folge des Kulturabkommens zwischen BRD und DDR bereits vor 1989 gute Kontakte zur Universität Rostock bestanden; die vielversprechende Aufbruchsstimmung endete jedoch spätestens mit dem Abbau zahlreicher Stellen. Schönert und Schieder schilderten, dass die Evaluationskommissionen an den Akademien nach den Begehungskriterien der DFG, an den Hochschulen v.a. nach Aktenlage entscheiden mussten. Einbezogen wurden u.a. die wissenschaftlichen Publikationen der zu Evaluierenden und die Ergebnisse der Ethikkommissionen. Während sich viele der Entscheidungen gegen etablierte Wissenschaftler:innen bis heute rechtfertigen ließen, habe man im vorgegebenen finanziellen Rahmen vor allem der wissenschaftlichen Großgruppe der Wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen nicht gerecht werden können: Die Angehörigen des „wissenschaftlichen Nachwuchses“ waren, so Schönert, die Verlierer der Transformation. „Gewinner“ waren die Nachwuchswissenschaftler:innen westdeutscher Universitäten, die aufgrund ihrer anders angelegten Qualifikationen in die noch zu besetzenden Stellen an ostdeutschen Universitäten einrücken konnten. Auch Schönert und Schieder betonten, dass letztlich die Entscheidungshoheit bei den Kultusministerien der Länder in Absprache mit den jeweiligen Finanzministerien gelegen habe.

Nach dem Podiumsgespräch widmete sich die Tagung der Fächergruppe der Naturwissenschaften und Mathematik. DOROTHEA HORAS (Potsdam) sprach über den Personalumbau an den Pädagogischen Hochschulen in Halle/Saale und Potsdam. Exemplarisch zeigte Horas, wie groß die Macht von Parteiorganisationen an Hochschulen in den 1980er-Jahren war, gemessen an SED-Mitgliedszahlen von Professoren und Leitungspersonen und an Repressionen gegenüber Studierenden und Beschäftigten. Auch das mathematisch-naturwissenschaftliche Personal war in die politischen Machtstrukturen der Hochschulen eingebunden, wie Horas eindrucksvoll mit Rückgriff auf Archivalien zeigen konnte. Die strikte Personalüberprüfung an den Pädagogischen Hochschulen habe darauf reagiert, dass die Lehrerausbildung als besonders parteilich gebunden galt. Durch die Gründung der Universität Potsdam aber konnten dennoch einige Wissenschaftler:innen im Dienst bleiben, während in Halle vergleichsweise wenige in die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg überführt wurden.

Die Mathematikerinnen SYLVIE PAYCHA und ELKE ROSENBERGER (beide Potsdam) beschlossen das Tagungsprogramm mit Einblicken in ihre Arbeit am Interview-Projekt „Zeitzeugen der Wende“. Ausgehend vom 25. Jubiläum der Universität Potsdam 2016 führten die beiden Wissenschaftlerinnen zahlreiche Interviews mit aktuellen und ehemaligen Mitarbeiter:innen am Institut für Mathematik und der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fakultät an der einstigen Pädagogischen Hochschule sowie der jetzigen Universität Potsdam. Die online abrufbaren Interviews lenken den Blick auf die anhaltenden individuellen Folgen der Umbruchsphase 1989/90 und belegen den Wert von Oral History.

Die Beiträge der Tagung und die zahlreichen, das Publikum involvierenden Diskussionen mit Wissenschaftler:innen und Zeitzeug:innen unterschiedlicher Generationen haben gezeigt, wie wichtig es ist, trotz der teilweise verhärteten Fronten in den Dialog über die Bedingungen, Vorgänge und Implikationen der Transformationszeit zu treten. Immer wieder wurde klar, dass es nicht allein um Spannungen zwischen West und Ost, sondern auch um divergierende Einschätzungen unter Ostdeutschen geht. Das „Europäische Zukunftszentrum für europäische Transformation“ könnte das Engagement des Einstein Forums fortsetzen und für neue Impulse in der Debatte sorgen. Zentral dafür wäre die intensive Einbindung der Wissenschaftler:innengeneration, die nach 1989/90 aufgewachsen ist und als Vortragende und Teilnehmer:innen auch in Potsdam vertreten war. Denn auch wenn es, wie Peer Pasternack treffend konstatierte, „kaum etwas in der Geschichte der Menschheit“ gebe, „das so gut untersucht ist, wie der Transformationsprozess“, gibt es für die unvoreingenommene Aufarbeitung und die öffentliche Aussprache noch viel zu tun. Die in Potsdam durchgeführte Inventur bildet dafür eine gute Ausgangsbasis.1

Konferenzübersicht:

Franziska Bomski (Potsdam): Einführung

Peer Pasternack (Halle-Wittenberg): Die nötigen Differenzierung innerhalb des Personalumbaus

Bernd Florath (Berlin): Der Sinn einer Revolution. Zum Umbau der Hochschullandschaft nach 1989

Axel-Wolfgang Kahl (Potsdam): Geist im Dienste der Republik? Akademische Eliten im „Erneuerungsprozess“ 1989/90

Krijn Thijs (Amsterdam): Gelungener Neuaufbau bei gescheiterter Abwicklung? Das Beispiel der SBK Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin (1990–1992)

Monika Juliane Gibas (Leipzig), Astrid Lorenz (Leipzig) und Dieter Segert (Wien) im Gespräch mit Uwe Maximilian Korn (Halle): Wie weiter? Wissenschaftliche Werdegänge

Mitchell G. Ash (Wien): Die Wissenschaften im Prozess der deutschen Vereinigung. Eine „Übernahme“ mit unerwarteten Folgen

Carsten Gansel (Gießen): Literaturwissenschaft in und aus der DDR zwischen Vorwende, Wende und Nachwende. Aspekte eines Problemfeldes

Sandra Schell (Heidelberg): Aufbrüche und Enttäuschungen im Zeichen der ‚Wende‘. Am Beispiel des Leipziger Literaturwissenschaftlers Günter Mieth (1931–2013)

Wolfgang Schieder (Köln) und Jörg Schönert (Hamburg) im Gespräch mit Andrea Albrecht (Heidelberg): Perspektive West. Weichenstellungen

Dorothea Horas (Potsdam): „Systemneutrale“ Naturwissenschaftler:innen als Stützen des Systems? Der Personalumbau an den Pädagogischen Hochschulen in Halle und Potsdam

Sylvie Paycha (Potsdam) und Elke Rosenberger (Potsdam): Das Interview-Projekt „Zeitzeugen der Wende“

Anmerkung:
1 Die Beiträge erscheinen 2024 in der Zeitschrift die hochschule.

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